Der Auslöser für mein Interesse an den so gut wie unbekannten „Pièces de Concours“ war ein Konvolut geerbter Noten – und eine Liste jener Werke, die mir vor einigen Jahren im Conservatoire de Paris in die Hände fiel. Welche Überraschung war es für mich zu bemerken, dass das erste dieser Werke schon 1896 für den ersten Concours der ersten echten Bratschenklasse am Pariser Conservatoire unter Théophile Laforge bestimmt war.
Zum Ursprung der pièces de concours
Die erste Violin- und Violoncelloklasse gab es in Paris schon 1795, die erste Kontrabassklasse 1827. Bereits 1848 erwähnte Hector Berlioz in der Revue et Gazette Musical, dass die Bratscher Geiger dritter Klasse seien und dass es einer echten Ausbildungsklasse bedürfe, um den neuen Anforderungen der zeitgenössischen Kompositionen, in denen die Bratsche erstmals als den anderen Instrumenten gleichgestellt behandelt wurde, gerecht zu werden.
Jedoch erst 1877 kam die allererste Bratschenklasse am Royal Conservatoire in Brüssel unter Léon Firket zustande, welcher das erste der Pièces de Concours, Concertino bereits 1878 komponierte. 1896 wurde es als erstes Pièce de Concours in Paris vorgeschrieben. 1878 sollte auch im Conservatoire de Paris eine erste Violaklasse, unter Joseph Marie Mas, eingerichtet werden. Der Beschluss dazu wurde aber vertagt, und erst 1894 wurde der 31-jährige Théophile Laforge damit beauftragt, eine eigene Bratschenklasse aufzubauen - im Widerspruch zu der noch immer weithin herrschenden Meinung, dass Bratscher diesel- be Spieltechnik wie Geiger benutzten. Laforge (1863–1918), formte eine neue Generation an “echten” Bratschern, zu denen Maurice Vieux (der später seine Klasse übernahm), Henri Casadesus (der durch einige Transkriptionen für Viola bekannt wurde), Louis Bailly oder Pierre Monteux (dem später weltberühmten Dirigenten) zählten.
Wie es das Conservatoire de Paris auch heute noch vorschreibt, musste jeder Instrumentalist zu seiner Abschlussprüfung, dem „Concours“ oder dem " Prix“, unter anderem dasselbe vorgeschriebene zeitgenössische Werk, genannt „pièce de concours“ vortragen. Dieses war reich an technischen, virtuosen wie lyrischen Anforderungen, die das Können der neu- en „Meister“ demonstrieren sollten. Von 1896 bis 1940 wurden auf diese Weise insgesamt 27 neue Kompositionen für Viola in Auftrag gegeben (viele davon wurden Théophile Laforge gewidmet), wobei manche beliebtere Werke in späteren Jahren bei weiteren Concours wiederholt verwendet wurden. Das wohl bekannteste Stück, das aus dieser Tradition hervorging und das es ins heutige Standardrepertoire der Bratsche geschafft hat, ist das 1908 komponierte Konzertstück (Pièce de concert ou Concerstück) von George Enescu, gefolgt vom Concertino in G-Dur (1899) von Hans Sitt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Anzahl der Aufträge zwischenzeitlich zurück. Als Pflichtstücke zählten von nun an nicht nur mehr die zeitgenössischen Kompositionen, sondern auch Werke aus dem sonstigen Standardrepertoire (Bach, Schumann, Stamitz, Walton). Um den Anforderungen der neuen Werke gerecht zu werden, versuchte Laforge die Instrumentengröße zu standardisieren; 40 Zentimeter, die Größe der Modelle des Conservatoires, seien ideal, um die Schwierigkeiten der längeren Lagenwechsel zu meistern, ohne den Charakter des Bratschenklanges zu verlieren. Der Bogen sollte von nun an etwas kürzer, mit stärkerer Stange, breiterer Bogenhaarbespannung und etwas schwerer als der der Geige sein.
Die Änderungen des Bratschenbogens wurden bis heute beibehalten, während die Größen der Bratschen wieder sehr unterschiedlich sind.
Allgemeines zu den Kompositionen
Die Pièces de Concours sind kürzere Stücke, ihre Länge variiert zwischen fünf und 14 Minuten. Die ersten dieser Stücke für Bratsche waren ursprunglich nicht unbedingt als Pièces de Concours komponiert, sondern dienten als Studienkonzerte, meist in drei Sätze oder drei Abschnitte gegliedert, zur Entwicklung der heranwachsenden Bratscher. Diese ersten Concert(in)os von Firket (1878 komponiert), Sitt (1892 komponiert) und Arends (1886 komponiert) sind die längsten der Pièces de Conours und waren mit einer eher einfachen Orchesterbegleitung versehen; es ist anzunehmen, dass sie auch des Öfteren so aufgeführt wurden.
Einige der nachfolgenden Werke wurden als „concertstück“ bezeichnet, dem deutschen Begriff (Konzerstück) für Concertino, einem einsätzigen konzertanten Werk mit Klavier, etwas freier in der Satzform, in dem die Virtuosität ähnlich wie in einem Concerto demonstriert werden durfte. Allmählich entwickelte sich eine Vielfalt der Formen unter den Pièces de Concours, und wir finden in späteren Jahren Namen wie Fantasie, Ballade, Thème Varié, Chaconne, Poème, Caprice, aber auch Arioso und Allegro als Satzbezeichnungen.
All diese Werke repräsentieren ein großes Spektrum an romantischer Musik mit lyrischem sowie auch immer mehr harmonisch komplexem Reichtum und einer zunehmend gleichgestellten Klavierbegleitung.
Was den Stücken gemeinsam ist: die Möglichkeit, die Beherrschung aller nur irgend denkbarer instrumentaler Schwierigkeiten überprüfen zu können. Dazu zählen schnelle Läufe über die ganze Tonspanne des Instrumentes, diatonisch wie chromatisch, komplizierte Arpeggio- wie Akkordkombinationen, Sixten-, Terzen-, Oktaven-, sogar Dezimen- und Flageolettmelodien, anspruchsvolle Kadenzen, Aufstrichstaccatoläufe sowie andere bogentechnich schwierige Passagen, aber auch Melodien mit spezifischen, lyrisch expressiven Anforderungen und Klangfarbenwünschen, auch Spielen in extrem hohen Lagen, mit Artikulations- und dynamischem Reichtum sowie harmonischem Verständnis.
Diese Werke sind technisch wie musikalisch anspruchsvoll, zugleich auch klanglich sehr bereichernd, pädagogisch wertvoll und bereiten großes Vergnügen.
Dreizehn der achtzehn hier eingespielten Piéces de Concours wurden von mir 2016 bei der Edition SCHOTT in drei Volumen unter Pièces de Concours neu herausgegeben. (ED 22234-22236).
Virtuosität einmal anders - mit französischem Flair! Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Entdecken dieser kleinen Juwelen unserer dünn gesäten romantischen Bratschenliteratur.
Jutta Puchhammer-Sédillot; Edition: Wolfgang Freitag
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